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Die Läufer-Predigt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Der Wortlaut der Predigt vom 27. September 2003 am Vorabend des 30. real,- BERLIN-MARATHON
23.12.2003
Schon legendär ist die Predigt des laufenden Pfarrers i.R. Klaus Feierabend innerhalb des Oekumenischen Abendgebets in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche , jeweils am Sonnabend vor dem BERLIN-MARATHON um 20.30 Uhr. Das Gotteshaus am Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg, jetzt bei km 33 gelegen, ist seit Jahren voll besetzt. Völlig ungewöhnlich für eine Kirche ist es, wenn während der Predigt plötzlich Beifall aufbrandet. Dann hat der Kirchenmann läuferisch-kirchliche Weisheiten der Laufgemeinde präsentiert.Klaus Feierabend lief seinen ersten BERLIN-MARATHON 1980, er gehört mit 21 erfolgreichen Teilnahmen dem BERLIN-MARATHON Jubilee-Club an. Seine ständige Startnummer beim BERLIN-MARATHON ist „210“. Insgesamt absolvierte er bisher 27 Marathonläufe, seine Bestzeit ist 3:11:40. Bei den letzten beiden Läufen konnte er wegen einer Verletzung – und jetzt wegen der ärztlichen Warnung – siehe Predigt - nicht teilnehmen.
Die Begrüssung der Laufgemeinde wird schon seit Jahrzehnten von Pfarrer Knut Soppa (Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche) vorgenommen, den Segen erteilt Pater Joseph Schulte O.F.M. (Kath. Pfarramt Sankt Ludwig, Berlin-Wilmersdorf). Musikalisch umrahmt wurde das Oekumenische Abendgebet von der Orgel: Henning Jansen (Freren – Dänemark).
Die Kollekte war bestimmt für behinderte Kinder in der Fürst-Donnersmarck-Stiftung:
Postbankkonto Nr. 122 76 – 105 (BLZ 100 100 10) Stichwort: „Marathon-Gottesdienst“.
Traditionell wird die Läufer-Predigt in der Ergebnisliste des real,- BERLIN-MARATHON veröffentlicht, Seite 46-47. Wir hoffen, daß Klaus Feierabend bald wieder völlig genesen ist und daß Frau „F“ gegen ein leichtes Lauftraining nichts mehr einzuwenden hat, denn sonst hängt der „Haussegen“ schief.
Horst Milde
Liebe Freunde, Altbekannte und erstmals Anwesende in der berühmten Blauen Kirche am Vorabend eines BERLIN-MARATHON!

Ich darf Euch heute zum 17. Mal eine kleine Wonnepredigt halten, über Kopf und Füße, Herz und Schmerz, Wohl und Wehe zwischen Lebenslauf und Läuferleben. Das Langlaufen im Allgemeinen und der Marathonkurs im Besonderen hat was mit Fasten zu tun. Was das ureigentlich ist, das Fasten, wissen gar nicht so viele Mitmenschen. Selbst in Läuferkreisen liegt das Missverständnis nahe, dass es sich dabei ausschließlich um ernsthafte Belastungen handelt. Man müsse sich quälen, Dauerverzicht sei angesagt, Beschwernisse gehörten zum Alltag. Alles nicht falsch, aber insgesamt nicht wirklich richtig. Nichtlaufende Zeitgenossen bemühen gelegentlich die Legende vom selbstquälerischen Charakter des Fastens. Meist verbinden sie Fasten mit sinnlosem Hungern und bewahren sich vor jedem Verständnis für solcherart verrückt gewordene Leute. Auf das Laufen bezogen, habe ich öfter als einmal ein nachahmendes Hecheln vernommen… aus dem ironisch verzerrten Gesicht derjenigen, die mir ihre Auffassung von den törichten Opferleistungen des Läufers demonstrieren wollten.
Befragen wir die Bibel, so werden wir sogleich Tatzeugen eines ganz anderen Weges. Fasten ist disziplinierte Freude, geleitet von einer imaginären Blauen Linie. Sie ist das Gegenteil von Selbstbeweihräucherung. Sie eifert nicht, sie lässt jedem das Seine und respektiert das Empfinden der anderen.
So wie Jesus gesagt hat: „Wenn du fastest, sollst du nicht sauer dreinsehen und dich nicht vor den Leuten spreizen, Angeberei macht alles kaputt.“ Fasten ist etwas ganz und gar Intimes. Zugleich aber ist es ein einverständliches Fest, keine Selbstbefriedigungsorgie. Fasten ist ein Fest, das ich nur mit anderen feiern kann. Der Prophet Jesaja sagt: „Fasten, welches einsam macht, ist gottlos.“ Das ist kein Widerspruch zu der Tatsache, dass der Fastende zunächst die Einsamkeit suchen mag. Je mehr sich aber einer isolieren will von den anderen, mit Hilfe seiner besonderen Übungen, um so sinnloser wird sein Fasten, es ist dann nur noch ein Gehabe. So aber: „Brich dem Hungrigen dein Brot“, das meint ja: Entzieh dich nicht denen, die dich brauchen. Sei ihnen nahe, sei erreichbar, auch dem Unerwarteten, der oder das bei dir anklopft. Die durchaus entbehrungsreichen Trainingsleistungen des Läufers sollen eigentlich Übungseinheiten für ein einverständliches Leben sein, für ein Leben in Verabredung mit anderen. Dem Läufer fehlt es nicht an Zeit für andere, er erlebt das Zeit haben für andere als geschenkten Zugewinn. Allerdings ist das kein gesicherter Fakt, sondern ein ungewisser Prozess. Ich will das am Beispiel erläutern: Vor reichlich vielen Jahren habe ich mal gelesen, dass Läufer sich untereinander beim Vorbeilaufen mit drei erhobenen Fingern begrüßen. So vielleicht… das soll heißen: „Freude, Gesundheit, Leistung!“ Ich hab’s nie angetroffen und schnell aufgegeben. Aber vergessen ist es nicht, bis heute: Freude, Gesundheit, Leistung, in wechselhafter Reihenfolge alle drei Motive. Keines ohne die beiden anderen. Selbst zweien, miteinander verbunden, würde das dritte echt fehlen. Was wären Freude und Leistung ohne Gesundheit?! Und könnten Leistung und Gesundheit ausreichend sein ohne die Freude am Laufen?!
Bei folgender Möglichkeit aber kommt der Läufer ins Grübeln: Freude und Gesundheit würden vielleicht auch ohne Leistung als ausreichende Zielsetzungen empfunden werden können. Das möchte der leistungsbewusste Läufer natürlich nicht ohne weiteres anerkennen. Es ist ja gerade dies ein Quell der Freude und Gesundheit so oft gewesen, dass die erhoffte Leistung tatsächlich Wirklichkeit wurde, Gottseidank. Alle drei Komponenten gehören offenbar zusammen: Gesundheit, Freude und Leistung. Aber die Reihenfolge ist nicht nur zufällig wechselhaft, sie steht auch unter Zwängen: Du bist indisponiert, die Freude am Laufen ist durchaus gedämpft. Du hast einen enormen Trainingsrückstand, dein Hauptinteresse dieses Mal liegt vornehmlich beim Leistungszuwachs. „Quäl dich, du Sau“, sagst du zärtlich zu dir und achtest weniger als sonst auf deine Wehwehchen und ihre sorgfältige Pflege. Und, Freunde, es kann noch etwas anderes hinzukommen. Die Zwänge, von denen ich sprach, erhalten – so kann es kommen – schicksalhafte Bedeutung: Du bist 25 Jahre Marathon gelaufen, hast alles Mögliche dabei erlebt, jedenfalls im Rahmen, der dem stinknormalen Volksläufer vorgegeben ist; bist immer durchgekommen, Schmerzen allein konnten niemals ein Grund zum Abbruch sein. Und es waren übrigens stets nur muskuläre und orthopädische Gebrechen, die dir die 42 Kilometer zur sauren Arbeit machten. So durfte die Freude am Ziel um so größer sein, wenn auch die Gesundheit unangetastet blieb.
Ja, die Schwierigkeiten bestanden lediglich darin, dass deine Oberschenkel zu flüssigem Eisen zerschmolzen, deine Waden die Beschaffenheit von Holzprothesen annahmen und deine Arme bis in die Schultern wie geprügelte Hunde sich fühlten. Nebenbei: Über die Arme müsste der arme Volksläufer viel mehr Bescheid wissen, um ein glücklicherer Läufer zu werden.
Jedenfalls hattest du nie Herz-, Kreislauf-, Atembeschwerden. Du hattest Luft wie ein Pferd und das Herz des Raiffeisenläufers aus dem Fernsehwerbespot. Und dann, nach 25 solchen Läuferjahren wird dir bei einer erstmaligen, zufälligen, sehr gründlichen Untersuchung mitgeteilt, dass du ein potenzieller Todeskandidat bist: „Von nichts gewusst, nie etwas gemerkt und plötzlich entdeckt, dass du tot umgefallen bist auf der schönen Strecke, von der du bisher jeden Kilometer besser kennst als dein eigenes Passbild.“
„Nie mehr Marathon!“ Und du wolltest doch zu den relativ Wenigen gehören, die noch im achten Lebensjahrzehnt die 42 Kilometer als ihren Wohnzimmerbereich verinnerlichen. Weiterlaufen sollst du aber unbedingt, nur jetzt mit dem Pulsgürtel, nicht über 115. Du weißt gar nicht, was das ist. Aber beim ersten Versuch ist dir klar: das ist unterste Leistungsgrenze. Von nun an also: Gesundheit, Freude, Leistung! Du weißt jetzt Bescheid. Aber macht das noch Spaß?
Du erinnerst dich, dass du längst sowieso nur noch vor dich hin trabtest. Während du in den ersten wilden Jahren die Zwischenzeiten von der Handfläche bis zum Ellenbogen notiert hattest und mit Blick auf die Uhr ständig abriefest und kontrolliertest, läufst du längst ohne Uhr, nur mit deiner inneren Uhr. Du bummelst die Blaue Linie eigentlich nur noch ab.
Trotzdem: Die Diagnose steht, wie ein Ausrufungszeichen, ein Warnlicht, nein: ein Ampelrot. Du bist mit einem Mal aus der Beliebigkeit deiner Planungsvorhaben entlassen. Nicht mehr du entscheidest, es ist entschieden. Was nun. Jetzt, liebe Freunde, müsste die Zeit des fröhlichen Fastens beginnen. Du könntest jetzt deiner allernächsten Frau – nennen wir sie mal Frau F. – versprechen, dass du nicht mehr Marathon laufen wirst und mehr gemeinsame Zeit mit ihr verbringen willst.
Du erinnerst dich an eine Situation vor Zeiten, in der du eine fiktive Entscheidung spielerisch getroffen hast. Du hattest ein bisschen gespielt mit einer nur angedachten, nicht tatsächlichen Entscheidung. Es war mehr ein Gag, damals. Es ging da um eine Werbung in den Zeitungen und Zeitschriften, es ist fast 20 Jahre her. Eine Weltfirma bot einen hübschen Preis für den Gewinner der Preisfrage: „Du fährst mit deinem Partner / deiner Partnerin auf einem Tandem des Weges, du sitzt vorne. Eine Planung für die Route gibt es nicht. An einer plötzlichen Weggabelung entsteht ein Streit: links oder rechts?! Wie entscheidet ihr euch?“
Meine spontane Antwort damals lautete: „Wir wechseln die Plätze.“ Ich war überzeugt, den Preis damit gewinnen zu können, ein Tandem. Ich sandte aber meine Antwort nicht ein, ich behielt sie für mich. Nichtsdestoweniger fand ich sie genial: „Wir wechseln die Plätze.“ Das sollte heißen: „Ich halte jetzt das Maul. Und entweder entscheidet meine Partnerin (ich rechnete schon damals immer nur mit Frau F.) nach ihrem Gusto. Oder ich habe glühende Kohlen auf ihr zartes Haupt gelegt, dann ist sie gerührt und entscheidet für meine Richtung. In jedem Fall wären wir beide: Gewinner. Wir hätten mal wieder begriffen, was das ist: Fasten.
Liebe Freunde, es gibt ganz andere und ganz unglaubliche Marathongeschichten von der Zumutung des Fastens, von Erwartungsbrüchen und wundersamen Erneuerungen beim Marathon und durch den Marathon. Wir konnten es immer wieder lesen, sogar hier in Berlin, in den Zeitungen der letzten Tage. Und ich hänge an der Hoffnung wie an einem Tropf, dass man lebenslang Marathonläufer bleibt, wenn man so innig auf der Blauen Herztonlinie einer gewesen ist. Euch alle aber und Euren Marathon morgen behüte Gott!
Amen.
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